artpark
Dirk Rathke Text
Dirk Rathkes Curved Canvases
Dirk Koppelberg
Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch
Möglichkeitssinn geben.
Robert Musil
Was an Dirk Rathkes Bildobjekten zuerst auffällt, ist ihre unverwechselbare Gestalt, die zugleich ihre Form bestimmt. Was sich langsamer erschließt, ist das Wirkungsspektrum ihrer differenzierten und jeweils sehr unterschiedlichen Farbgebung. Und was sie schließlich auszeichnet, ist das genau aufeinander abgestimmte und unauflösliche Zusammenspiel von Farbe, Form und Bildträger, das den einzelnen Arbeiten ihre jeweils spezifische Identität verleiht und die visuelle Intelligenz ihrer Betrachter herausfordert und nachhaltig beschäftigt.
Curved Canvases ist die angemessene Bezeichnung für die charakteristische Gestalt von Rathkes Bildobjekten. Was ist damit gemeint? Die von quadratischen, rechteckigen oder auch dreieckigen Grundformen ausgehenden und diese Formen variierenden Bildträger bestehen weder aus einem flachen noch aus einem tiefen Rahmen, sondern die Tiefe des Objekts nimmt meist an einer oder auch an zwei Ecken des Bildes im Vergleich zu den anderen Ecken kontinuierlich ab oder zu. Die Folge dieser Konstruktion ist eine nicht länger ebene, sondern leicht konvex oder konkav über den Rahmen gewölbte Leinwand (Curved Canvas). Durch die unterschiedliche Tiefe der Bildseiten, die bei größeren Arbeiten mehr als zehn Zentimeter Differenz aufweist, sind diese Seiten nicht allein Begrenzung als vielmehr integrierter und betonter Bestandteil der Bildobjekte. Um dies visuell explizit zu machen, experimentiert Rathke mit verschiedenen Möglichkeiten: Manchmal bleiben die Seiten völlig unbehandelt, wodurch das Augenmerk des Betrachters nicht nur auf die Bildoberfläche, sondern kontrastiv und ergänzend auch auf Farbe und Textur der Leinwand gelenkt wird. Oder aber die Seiten werden auf eine Weise malerisch behandelt, dass sie zusammen mit der Frontansicht des Objekts dessen spezifische Gesamtwirkung entstehen lassen, die ihrerseits in hohem Maße von Art und Qualität der Farbgebung abhängt.
Wie lässt sich diese Farbgebung näher beschreiben? Rathke arbeitet in der Regel mit unaufdringlichen Farbtönen im nuancierten Weiß-Grau-Bereich, der sich in Einzelfällen zu einer differenzierten Buntfarbigkeit ausweitet. Zuweilen ist eine kaum merklich changierende Farbigkeit auch unter einer weißgrauen Oberfläche spürbar. Die Beschränkung auf einige wenige Farben lenkt die Betrachtung auf die ihnen inhärenten Qualitäten und Wirkungen, insbesondere auf den Zusammenhang von Farberscheinung (colour) und Farbmaterie (paint) und damit auf eine grundlegende Voraussetzung von Malerei. Einige Bilder sind gespachtelt; viele Arbeiten sind überwiegend so gemalt, dass der verhalten individuelle Duktus hinter einer klaren Farbwirkung beinahe verborgen bleibt, manchmal fast eher zu ahnen als tatsächlich zu sehen ist. Viele Bilder erscheinen bei erster Begegnung monochrom, wobei sich diese Annäherung an die Monochromie bei genauerem und längerem Hinsehen aus sorgsam aufeinander aufgetragenen polychromen Malschichten zusammensetzt. Durch behutsame Modulation wird alles Aufdringliche und Plakative zugunsten einer häufig lyrischen Farbgebung ausgeschlossen. In der Art dieser Farbgebung zeigt sich eine Form von malerischer Qualität, die es im Zeitalter stetig zunehmender visueller Umweltverschmutzung leider besonders schwer hat, die ihr gebührende Beachtung und Aufmerksamkeit zu finden.
Rathkes Thema ist die mit künstlerischen Mitteln betriebene Untersuchung der Grenzen der Malerei und die experimentelle Auslotung von Möglichkeiten zu ihrer Erweiterung. Dies geschieht bei ihm in dreifacher Weise: wörtlich, gattungsspezifisch und philosophisch.
lm wörtlichen Sinn werden die Grenzen der Malerei dadurch verschoben, dass die Curved Canvases über die konstitutive Flachheit des traditionellen Tafelbildes hinausgehen. Die variierende Tiefe der Bildränder - sei es als unbehandelte Leinwand, sei es als gezielt bemalte Fläche - ist integraler Bestandteil der Werke. Und auch an den Rändern hört die Wirkung des Bildes nicht auf. Sich fast unmerklich wandelnde Schattenbildungen, die bei natürlichem Lichteinfall im Laufe des Tages in jeweils unterschiedlicher Stärke an verschiedenen Seiten des Objekts entstehen und auch wieder vergehen, machen die sich stets verändernde Interaktion zwischen dem Bildobjekt und seiner unmittelbaren Wandumgebung sinnlich erfahrbar.
Über die Wand hinaus reicht diese Interaktion durch Rathkes ebenso eigenwillige wie beeindruckend sorgfältige Konstruktion seiner Objekte bis in den Raum hinein, der dadurch neue Konturen erhält und dem Betrachter eine veränderte Wahrnehmung seiner Beschaffenheit ermöglicht. Zwischen Bildobjekt, Raum und Betrachter entsteht so ein variables Beziehungsgeflecht, dessen veränderbare Koordinaten den spezifisch ästhetischen Reiz dieser Konstellation ausmachen.
Durch die für ihn charakteristische Fertigung und Gestaltung seiner Objekte geht Rathke auf die Grenzen der Malerei in einem gattungsspezifischen Sinn ein. Denn worum handelt es sich bei seinen Curved Canvases? Sind es vielleicht eher ungewohnte Formen von Reliefs als eine besondere Art von Shaped Canvases? Sind es Wandskulpturen? Raumverändernde Objekte? Rathkes Arbeiten stellen Fragen, die den Betrachter auffordern, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wo die Grenzen eines Bildes liegen und wie weit die Möglichkeiten der Malerei reichen, in welchem Sinne bestimmte Grenzen geöffnet werden können und in welcher Form Malerei auch heute noch - allen modischen Abgesängen zum Trotz - eine aussichtsreiche Zukunft haben kann. Curved Canvases werfen jedoch nicht nur Fragen auf; ihre besten Exemplare sind vor allem überzeugende und eindrucksvolle Antworten auf diese Fragen, die sich allerdings nur unter konzentrierter und exploratorischer Beteiligung ihrer Betrachter finden lassen.
Schließlich geht es auch um die Grenzen und Möglichkeiten der Malerei in einem philosophischen Sinn. Rathkes Arbeiten exemplifizieren Balance und Gratwanderung zwischen radikaler Autonomie und häufig impliziter Bezugnahme auf Erscheinungen, Erfahrungen und Empfindungen, die sich genauer begrifflicher Erfassung entziehen. Angesichts eines Curved Canvas wird der Betrachter nicht nur eines Bildes als Bildobjekt und dessen Wirkungen auf Wand und Raum gewahr, er wird sich darüber hinaus auch der Wirkung seiner eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten bewusst. Allerdings wird der Betrachter nicht nur - und vielleicht auch nicht primär - auf sich und seine Wahrnehmungen zurückverwiesen. Vielmehr spürt er den durch seine Wahrnehmungen ausgelösten Einsichten und Assoziationen nach und prüft dabei die Angemessenheit möglicher Interpretationsversuche. Nach eher kontemplativen Schauen und häufig den Standort wechselnder Interaktion mit den Bildern führen die dabei gewonnenen Erfahrungen schließlich auch zu analytischen Bemühungen, dem jeweiligen Gehalt eines Curved Canvas auf die Spur zu kommen. Die niemals gegebene vollständige Überschaubarkeit der Bildobjekte von einem bestimmten Standpunkt aus spielt dabei eine wichtige Rolle.
Sowohl die bildkonstitutiven wie auch die subjektiv assoziativen Elemente regen den Betrachter nämlich zu stets neuen und immer wieder veränderbaren Orts- und Wahrnehmungseinstellungen an. Zu einem unverrückbaren und ein für allemal feststehenden Bild gelangt er bei einem solchen Vorgehen natürlich nicht. Vielmehr macht der Betrachter die Erfahrung verschiedener Bilder, an deren unterschiedlicher Konstitution er selber durch seine eigene für ihn jeweils charakteristische Art der Interaktion mit dem Bildobjekt aktiv beteiligt ist. Dabei oszilliert seine Wahrnehmung immer wieder zwischen momentaner visueller Befriedigung und stets neuerlicher Entdeckungslust.
In Rathkes Bildern sieht man sowohl den prägenden Einfluss wie auch die originelle Fortsetzung zweier spezifisch moderner Traditionslinien: einer typisch amerikanischen farb-, flächen- und raumorientierten Malerei wie sie beispielhaft bei Ellsworth Kelly, Robert Mangold und Frank Stella zu finden ist und einer entfernt verwandten, wenn auch letztlich sehr verschiedenen deutschen Tradition "essentieller Malerei" (Matthias Bleyl), wie sie prominent durch Raimund Girke, Kuno Gonschior und Gotthard Graubner repräsentiert wird. (Rathke studierte an der HdK Berlin zuerst bei Girke und war nach dessen Emeritierung Meisterschüler bei Gonschior.)
Auch wenn man in verschiedenen Bildobjekten Anklänge und Spuren seiner produktiven Auseinandersetzung mit den genannten Malern entdecken kann, malt Rathke nicht in erster Linie, um in seinen Arbeiten einerseits eine Synthese, andererseits eine Transformation von Einsichten und Ergebnissen dieser beiden Traditionen zu erzielen. Er malt vor allem, um das sichtbar und sinnlich erfahrbar zu machen, von dem er glaubt, dass er es nur durch seine spezifische Art malerischer Gestaltung angemessen zum Ausdruck bringen kann. Was das ist, erschließt sich nach aufmerksamer, geduldiger und mehrfacher Betrachtung von verschiedenen Standpunkten aus unterschiedlicher Entfernung bei wechselndem (Tages-)Licht. Dass sich die dabei gemachten Erfahrungen sprachlich nicht eindeutig fixieren und allgemein verbindlich formulieren lassen, spricht in diesem Fall nicht gegen deren Gehalt, sondern für die spezifische Qualität von Rathkes Arbeiten, die gerade darin liegt, radikal neue Sichtweisen durch einen intimen visuellen Dialog zwischen Betrachter und Bildobjekt zu eröffnen.
Rathkes Bildobjekte sind von raffnierter Einfachheit und strukturierter Schlichtheit; dadurch sind sie elegant und romantisch zugleich. Sie sind elegant, weil ihre spezifische Sinnlichkeit nicht aufdringlich grell, sondern verhalten und nachhaltig wirkt. Sie sind romantisch, weil die für sie charakteristische Wirkung jenseits aller rein kognitiven Analysen vor allem in ihrer Entfaltung nichtbegriftlicher subtiler Gefühlserfahrungen liegt, die jedoch von im weitesten Sinne intellektuell zu nennenden Einsichten nicht zu trennen sind. Diese Erfahrungen und Einsichten sind an das unauflösliche Zusammenspiel von Farbe, Form und Raum gebunden, dem Rathke in seinen Curved Canvases seinen unverwechselbaren Ausdruck verleibt.
© PD Dr. Dirk Koppelberg
Zum Autor:
Dirk Koppelberg lehrt Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er war visiting scholar an der University of California in Berkeley und Gastprofessor an der Universität Bayreuth sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitsgebiete sind Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie, Philosophie des Geistes und der Psychologie, Sprachphilosophie und Philosophie der Kunst, wozu er zahlreiche Publikationen vorgelegt hat.
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